Cloudspotter*in. Das klingt vielleicht ähnlich dämlich wie Star-Trek-Cosplayer oder Lokomotivfotograf*in. Wie um alles in der Welt kommt mensch denn dazu? Na ja, wie zu fast allem im Leben: durch Zufall. Irgendwann hörte ich nämlich in einem Podcast davon. Da hatten sie diesen Typen zu Gast, der ein huldigendes Gedicht über Wolken rezitierte. Wassertröpfchenpoesie. Von im selbst verfasst, dem Gründer der „Cloud Appreciation Society“. Gavin Pretor-Pinney, einem britischen Designer und Träumer. Einer, der nicht ganz dicht zu sein scheint.
Ehrlich gesagt: Das fand ich so schräg und gleichzeitig so rührend, dass es mich an den Rechner zog. Zu meiner typischen Feldrecherche, die ich so gern anstelle bei all den Dingen, die mich interessieren. Und noch ehrlicher gesagt: mich interessiert so ziemlich alles auf dieser Welt.
Als ich da also unbedarft ins Hasenloch der Wolkenkunde stolperte, begann ein völlig unesoterischer, aber umso faszinierender Trip zum Himmel. Er hat bis heute nicht aufgehört. Und genau heute – ja, da möchte ich dich mitnehmen, liebe*r Leser*in. Versprochen, es ist eine Reise wert! Und das Tolle: Diese Droge bekommst du völlig umsonst. Sie ist garantiert ungefährlich, universell und unbegrenzt verfügbar. Sie hat nicht mal einen Gewöhnungseffekt. Perfect day, every day.
Beim Blick in den Himmel kann man auf zwei Arten mit den Wolken umgehen: wissenschaftlich und fantastisch – oder beides zusammen (empfehle Letzteres, weil es die mentale Flexibilität fördert).
Um sich in die unbedarften Höhen der fliegenden Wassertröpfchen, -gase und -kristalle zu vertiefen – in all ihre Formen, Spielarten und Bewegungen; in den nie endenden Film auf der großen blauen Leinwand – dazu braucht es zunächst gar nichts. Nur ein Stück nach oben offene Fläche. Hinlegen, hingucken, eintauchen, weggleiten! Nichts musst du dafür über Wolken wissen. Gar nichts. Auch wenn ich das, was du dann erleben kannst, jetzt gleich in merkwürdige Worte kleiden werde:
Lass dich auf den Wellen von altocumulus stratiformis undulatus davontragen! Spiele dein Lieblingslied auf den feinen Saiten von cirrocumulus fibratus. Hüpfe von Stein zu Stein im dunklen Flussbett der mammatus. Lass dir vom Geist des plieus auf dem Monsterkopf der cumulonimbus einen Schauer über den Rücken jagen! Oder pfeife einfach auf alles und schau, wie der Wind das Wunderwerk vor deinen Augen dahintreibt! Wie immer neue Formen entstehen, vergehen, sich vereinigen, zerreißen; Stimmungen sich zusammenbrauen und einander ablösen!
Okay, über Magie kann man schön faseln – von Erkenntnis aber nachhaltig berichten oder darüber schön schlau schreiben. Wenn du dich also auf so eine Wolkenreise einlässt, wirst du vielleicht früher oder später auch mal nachschauen wollen, was dir da so begegnet ist am Himmel. Und anhand der komischen lateinischen Namen hast du schon ahnen können, dass es für so ziemliche alle Wolkenphänomene eine Klassifizierung und Erklärung gibt – in der Nephologie, einer Fachrichtung der Meteorologie.
Wo das bloße Hinschauen grenzenlose Entspannung bringt, sorgt das bewusste Entdecken für unmittelbaren Spaß und bleibende Erinnerungen. Weil Menschen durch Benennen bekanntlich besser unterscheiden können. Und weil Anwenden von Wissen das leistet, was man Selbstwirksamkeit nennt. Vereinfacht: Etwas tun, was Wohlgefühl vermittelt – ganz unmittelbar. Neben der Träumerei also die zweite Seite der Cloudspotterei. Und was es da so gibt … lass uns ruhig einen unbeschwerten Blick drauf werfen! Aber nur – um uns irgendwann wieder davon zu lösen …
Wolken kennen- und unterscheiden lernen, ist eigentlich ziemlich einfach. Denn es gibt – ganz stark verkürzt – nur zwei Typen, aus denen sich alle anderen zusammensetzen: Schicht- und Haufenwolken. Letztere, fluffig-puffige, auch bekannt als Quellwolke, nennt man in der Fachsprache cumulus (von lat. Anhäufung). Die wolkigste aller Wolken. Jedes Kind kann sie malen. Die andere, welche wir als dichte, homogene Decke oder Nebel kennen, wird mit stratus (lat. ausbreiten) bezeichnet.
Das war’s im Prinzip. Der Rest ist Variation von Formen und Wechselwirkungen. Haben wir zum Beispiel ein mehr oder weniger amorphes Gedöns aus großen, irgendwie miteinander verbundenen Wolkenhaufen, das den halben oder gar den ganzen Himmel bedeckt, dann ist das stratocumulus – eine bzw. mehrere Haufenschichtwolke/-n. Nicht wirklich schwierig, oder?
Weiter geht’s! Die beiden – dir jetzt bekannten – Basiswolken (Haufen- und Schicht) kommen in fast allen Höhen der Troposphäre vor. Und weil sie, je nachdem wie weit weg vom Erdboden, in unseren Augen sehr verschieden aussehen können, ordnet sie die Nephologie in hohe, mittelhohe und tiefe Wolken.
Das Ganze auf Lateinisch bitte: cirro-, alto- und nüscht. Tiefe Wolken bekommen nämlich keine Vorsilbe. Mittelhohe bekommen das Affix alto– für lat. hoch. Und die ganz hohen Eiswolken werden – weil sie da oben oft von Winden zerzaust dahintreiben – als cirrus (lat. für Franse) bezeichnet. So ergeben sich die folgenden sechs Grundgattungen:
Hier eine Übersicht:
Damit sind wir schon fast komplett. Jetzt kann der Regen kommen.
Die meisten Wolken treiben recht unbeachtet dahin. Stehen uns in der Sonne. Besetzen den Himmel. Und ziehen schließlich weiter. Wenn sie aber anfangen, mit Wasser, Wind und elektrostatischen Entladungen um sich zu werfen, ist ihnen die Aufmerksamkeit sicher. Jede*r kennt diesen trüben, verhangenen Himmel, aus dem beständiger Regen tropft oder fällt. Hängt tief und bleibt gern länger. Hier haben wir es mit der drögen nimbostratus zu tun. stratus – also Schicht – kennen wir schon, lat. nimbus heißt Regen. Der Himmel – ein Guss. Direkter geht’s nicht. Easy learning. And mostly harmless.
Bedrohlicher sind da schon die berüchtigten Gewitterwolken, welche sich statt in die Breite von unten nach oben formieren, geradezu auftürmen – über alle Schichten bis in 13 km Höhe. Diese vertikalen Monster sehen meist beunruhigend aus und beeindrucken mit überraschenden, dynamischen Formen. Ganz kurz zum Namen: cumulonimbus. Also Regenhaufen – oder ein Haufen Regen. Massiver Euphemismus. Denn wenn sich Gewitterfronten zu Superzellen formen (ihre Aufwinde also stabil rotieren), sind sie nicht nur imstande, Angst zu verbreiten, sondern auch zu verwüsten – zum Beispiel in Form von Tornados, die zuweilen aus ihnen entstehen.
Als optischer Ausdruck des Unwetters kann cumulonimbus verschiedenste Formen annehmen. Nach oben auseinandergehend wie ein Amboss, nennt man sie capillatus (lat. haarig). Schließt der Riese stattdessen mit einem eher runden Kopf ab, wird er als calvus (lat. haarlos)bezeichnet. Noch ein Häubchen drauf? Dann ist es pileus (lat. Mütze). Klingt fast wie ein römisches Schmierentheater – nur auf der ganz großen Bühne eben.
Und das gefährliche Wunderwerk der Donnerwetterwolken wird gern von anhängenden Wolkengestalten begleitet – darunter einige der faszinierendsten überhaupt.
Manche Gewitter bilden eine klare Front und rollen regelrecht auf einen zu. Das mobile Tor zur Hölle bezeichnet man als arcus (lat. Bogen). Mal sieht es aus wie eine riesige Walze (roll cloud), ein ander Mal wie ein riesiger Monstermund (shelf cloud). Unfassbar beeindruckend. Und wer tatsächlich in den Genuss einer Superzelle kommt, kann sich an den kugelförmigen Ausbeulungen an der Unterseite ihrer Ausläufer erfreuen – genannt mammatus (lat. brustartig). Unecht. Nicht von dieser Welt. Ein ähnlich überwältigendes Erlebnis wie eine der seltensten Wolken überhaupt: asperitas (lat. aufgewühlt).
Dieses wellenförmig wabernde, transluzent ungleichmäßige Gewebe tritt ausschließlich nach dynamischen Gewitterereignissen über weiten Ebenen auf. Bei uns leider fast unmöglich zu entdecken, ist sie mir tatsächlich einmal begegnet. Na gut, nicht hier, sondern am Okavango-Delta. Aber es war sozusagen ein Geschenk des Himmels. Hier der Beweis:
Das nur als kleines Beispiel unter diversen merkwürdigen Phänomenen. Es gibt im Nachtlicht der Arktis schimmernde Wolken, Regenbogenwolken, Wolken, die aussehen wie gemalte Wellen von der Seite (Kelvin-Helmholtz mit Gruß an van Gogh).
Aber noch einmal kurz zurück zu den uns bekannten, typischen Wolken. Die sind nämlich nicht weniger spannend, wenn der passende Wind hinzukommt. Und weil die Luft ja bekanntlich in unterschiedlichster Art und Weise wehen oder wirbeln kann, zeigen sich die von ihr geschaffenen Muster auch entsprechend vielfältig.
Da werden Eiswolken zu Tiergerippen (cirrus vertebratus) umgeformt oder in feine Fasern aufgegliedert (cirrus fibratus), die sich manchmal sogar kreisförmig anordnen (cirrus fibratus radiatus). Aus Haufenwolken entstehen löcherige Stoffe, von denen Modedesigner*innen nur träumen können (stratocumulus lacunosus) – manchmal sogar kleine, rundgewirkte Ufos (lenticularis). Genau: Wir werden nicht von Außerirdischen besucht, nur von fliegenden Wasserdampfobjekten!
Höhere Haufen- und Schichtwolken können sich in regelmäßigen Wellen über den Himmel ziehen (unduluatus), mehrere Schichten bilden (duplicatus) oder völlig auseinanderreißen und fantasievolle Formen bilden (fractus).
An dieser Stelle höre ich auf. Die Spielarten der Wolken sind unendlich. Und das ist gut so, sonst würde es ja irgendwann langweilig werden.
Ein Freund von mir, der die 90er Jahre in Berlin recht aktiv erlebt hat, erklärte die bestimmende Musik dieser Zeit folgendermaßen: „Nicht der Song oder ein DJ bestimmt, wann getanzt wird, sondern ich selbst; ich habe immer die Gelegenheit und tu es dann, wann ich will, wie ich will.“ Cloudspotting ist so ein bisschen so. Denn den Himmel über Europa kann man wie einen guten Club (ohne Türsteher) besuchen; einen Club, der rund um die Uhr geöffnet hat. Heißt: Da ist meist was los. Und ich selbst suche mir aus, wann ich hinschaue, teilnehme, mitträume.
Ein ständig laufender Film, in den man stets einsteigen kann. Und immer wieder gibt es etwas zu entdecken. Luxus für die Seele. Inspiration. Und erinnerndes Moment an unsere bloße Existenz:
Wolken sind Wetter. Wetter aber ist Ausdruck und Bedingung des Lebens. Seine Elemente: Wasser und Luft. Damit demonstrieren uns Wolken jeden Tag und ganz direkt unsere eigene Lebendigkeit. Ein unbefleckter Himmel – das bedeutet Tod. Da wären wir auf dem Mars und würden Sandstürme statt Wolkentürme genießen. Mit Helm und ohne große lebenskünstlerische Perspektive (verlorene Wassersäcke in Elon Musks multiplanetarer Tech-Diktatur).
Die Tatsache, dass Wolken da sind, entspannt ungemein. Denn sie bilden die Voraussetzung dafür, dass wir auch morgen noch genug zu trinken – und vermutlich auch genug zu staunen – haben.
Deshalb wünsche ich uns allen ein möglichst spannendes, wechselhaftes Wetter und einen entspannt-bewussten Blick auf das Wesentliche – auf Luft und Wasser – also in den Himmel!
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